Für die Zeitschrift „Ausserschulische Bildung. Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung“ des AdB habe ich einen Artikel zu Educaching, lernen wie im echten Leben geschrieben. Mit freundlicher Genehmigung darf ich den Artikel auch hier im Blog veröffentlichen. Drüben bei Jöran ist ein weiterer Artikel aus dieser Zeitschrift zu finden.

Sie sind jetzt schon mehrere Stunden unterwegs. Der Weg führt sie durch Berlin Mitte. Sie befinden sich auf den Spuren von Martin Luther King. Er ist am 13. September 1964 um 19:00 Uhr für mehrere Stunden nach Ostberlin gereist. Der evangelische Geistliche war bekannt für seine Rede „I have a dream“, auch in der DDR. Er war gekommen um auf beiden Seiten des geteilten Deutschlands über den Wert der Freiheit zu sprechen. Eine weitgehend unbekannte Geschichte mit vielen delikaten Spitzen gegenüber dem sozialistischen Regime. Es ist weniger die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte, die die Gruppe der „Schatzsucher“ leitet, sondern ein sonntäglicher Spaziergang mit Freunden.

In Berlin findet die re:publica statt, der alljährliche Kongress zur Internetkultur. Hier finden sich Blogger und Netzbewohner ein und es geht um das neue Leitmedium Internet, dass die Gesellschaft in allen Bereichen grundsätzlich verändert. Passend zum Kongress finden sich kleine Gruppen, die sich mit dem Freiheitskämpfer Martin Luther King beschäftigen wollen, fernab des Vortragsmarathons. Sie wollen mit allen Sinnen lernen. In der Marienkirche erwartet sie im gefundenen „Schatz“ historisches Bildmaterial, das, verbunden mit dem Ort die stattgefundene Geschichte wieder lebendig macht. Ein wenig Phantasie braucht man schon um zu veinem System der totalen Überwachung.

1. Worum geht es in den beiden Geschichten?

Die Akteure haben einen Geocache gefunden. Mit Hilfe von GPS Koordinaten ist jeder Punkt auf der Welt eindeutig definiert. Sind diese Koordinaten bekannt, kann man mit Hilfe eines GPSfähigen Gerätes diesen Ort aufsuchen. Die gleiche Technologie wird in Navigationsgeräten für Autos verwendet. Beim Geocaching werden diese Koordinaten auf einer Webseite veröffentlicht. An den definierten Koordinaten sind sogenannte Schätze versteckt. Diese werden häufig in kleinen wetterfesten Platikdosen, dem Cache, aufbewahrt. Viele hundertausend Geocachende weltweit finden täglich tausende dieser Dosen. Der Inhalt erzählt dem Finder häufig interessantes über den Ort, an dem er sich gerade befindet. Es ist eine eigene Welt in dieser Welt. Es sei noch einmal deutlich gesagt, dass es sich nicht um ein Computerspiel handelt, sondern um eine richtige Schatzsuche. Manchmal müssen die Suchenden Rätsel lösen, um den Schatz finden zu können, manchmal müssen sie vorher eine Reihe anderer Koordinaten finden, also einen Weg bestreiten um an das gewünschte Ziel zu gelangen und manchmal gehen sie Nachts auf die Suche, weil nur dann die Reflektoren zu sehen sind, die den Weg weisen. Es sind geheimnisvolle mit den Orten verwobene Abenteuer, die Erwachsene, Jugendliche und Kinder bestehen können.

Auf der Plattform geocaching.com können auch selbst konzipierte Geocaches eingestellt werden. Das „Loggen“ des Caches, dass auf den meisten Geocaching-Plattformen (geocaching.com, opencaching.com, terracaching.com) implementiert ist, ersetzt dabei die reflexive Nachbereitungsphase in einem nicht institutionalisierten Bildungsangebot. Hier berichten die Cacher von ihrem (Bildungs)Erlebnis. Die Plattform geocaching.com wird redaktionell betreut und folgt einer Reihe von Regeln, die auch den Anforderungen für die Vermittlung politischer Inhalte entspricht. So soll zum Beispiel niemand für einen Bildungsanspruch vereinnahmt werden. Der Cache darf auch in keiner Weise kommerziell werbend oder einseitig politisch motiviert sein. Ein Geocache soll zu einem interessanten Ort führen, der Geocache darf jedoch nicht instrumentalisiert werden. Insofern müssen die Informationen gut dosiert werden und dem Beutelsbacher Neutralitätsgebot entsprechen.

Wenn das Prinzip Geocaching in einem Bildungskontext als Methode zur Vermittlung eines Inhalts Anwendung findet, kann man das Educaching nennen. Es handelt sich hierbei um ein Kunstwort aus Education und Geocaching. Damit sind jedoch nicht nur die institutionalisierten, sondern auch die informellen Bildungsräume gemeint. Geleitet ist das Konzept Educaching von der Idee, dass digitale Medien den Lernprozess bereichern können, sie sollen eingebettet werden und zugleich ein Angebot machen, das mit analogen Mitteln nie möglich war.

2. Wie funktioniert Educaching?

Die grundlegende Idee ist einen Teil des Bildungsprozesses an den Ort des Lerngegenstandes zu verlagern. Das entspricht der Exkursion, diese ist jetzt aber ohne den Referenten denkbar und wird damit zu einer selbstorganisierten Lernphase. Educaching erfordert zumindest in institutionalisierten Lernsettings eine Vor- und Nachbereitung. Als Werkzeug für die Phase der Exkursion wird ein Smartphone oder ein GPS-Gerät benötigt. Es geht jedoch auch sehr niederschwellig ohne digitale Technologien mit Hilfe eines ausgedruckten Readers. Die Anforderungen sind an die Lerngruppe und die vorhandene Technik anzupassen. Die Exkursion erfolgt in Gruppen zu 3 Lernenden. Die Aufgabenverteilung sieht vor, dass Karte und digitales Werkzeug voneinander getrennt sind um Kooperation und Kommunikation zu ermöglichen. Darüber hinaus gibt es ein Teammitglied, das die mit dem Ort verbundenen Aufgabenstellungen verwaltet. In der Gruppen wird der Weg zwischen zwei zu suchenden Orten häufig dazu genutzt, über das anstehende Rätsel, den bisherigen Weg oder die noch zu lösenden Aufgaben zu diskutieren. Nur so kann selbstorganisierte Bildung anfangen.

Die Exkursionsphase muss dokumentiert werden, dabei sind eine Reihe von Werkzeugen zu verwenden, wie Fotokamera, GPS-Ortung um den gegangenen Weg auf einer digitalen Karte nachvollziehen zu können oder Videokameras. Entscheidend ist, dass das Medium als Werkzeug in der Hand des Lernenden verschwindet und somit das Medium in dem Bildungsprozess eingebettet wird. Dadurch ist es möglich sich auf das Problem selbst zu konzentrieren und Medien als in den Lernprozess eingebettet zu erfahren. In der abschließenden Nachbereitung dient die Dokumentation als Grundlage der Reflektion. So kann der Lernende das Gelernte benennen, und den Erkenntnisprozess nachvollziehen.

3. Beispiele für Educaches

3.1. Auf den Spuren von Martin Luther King

Die schon in der Einleitung erwähnte Geschichte ist in einer ca 1 1/2 stündige Tour durch Berlin Mitte umgesetzt worden. Es ist eine Auseinandersetzung mit den Bürgerrechten in der DDR und führt dabei an Orte, die durch den Cache eine neue Kontextualisierung erfahren. Die Geschichte beginnt am Grenzübergang Heinrich-Heine Allee, dort hat Martin Luther King der erschossenen Flüchtlinge gedacht, führt weiter zur Marien- und Sophienkirche, hier hat der geistliche gepredigt und führt abschließend zum Hospiz am Bahnhof, das heute eine Kapelle im Keller eines Hotels ist.

3.2. Die Homberg Story

Ein Educache, der die Geschichte des DGB Tagungszentrums Hattingen beschreibt. Die Erzählung beginnt mit dem Bau einer Villa durch einen Seidenfabrikanten, den Irrungen während des Nationalsozialismus und dem nachfolgenden Verlauf gewerkschaftlicher Bildungsgeschichte. Die Teilnehmenden des Tagungszentrums können sich an der Rezeption GPS Geräte und einen Reader ausleihen und in der Mittagspause die Caches die den historischen Verlauf nachzeichnen selbst entdecken.

3.3. Landtagsgeschichte(n)

Im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung hat mein Kollege Jöran Muuß-Merholz die Standorte des Düsseldorfer Landtags nachgezeichnet und mit historischen Geschichten angereichert. Der Cache wurde in die weltgrößte Datenbank für Geocaches bei geocaching.com aufgenommen und wurde seit seiner Veröffentlichung am 07.04.2010 schon 98 mal gefunden (Stand Juli 2011)

3.4. Große Politik am Rheinufer

Dieser Cache, der auch im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung entstanden ist stellt 4 Stationen vor, an denen die politischen Geschicke des Landes NRW entschieden werden: Das Landeshaus, die Villa Horion, der Johannes Rau Platz und das Stadttor. Auch dieser Cache steht in der Datenbank von geocaching.com und wurde bisher 126 mal komplett durchlaufen. (Stand Juli 2011)

3.5. Die Gruppe 47

Die Gruppe 47 war ein Debattierclub bestehend aus einer Reihe von Nachkriegsschriftstellern, darunter auch Günther Grass. Neben den Lesungen wurden die Werke der Anderen teilweise aufs übelste zerrissen. In Anlehnung an mehrere Treffen, die im DGB Tagungszentrum Starnberg stattgefunden haben wurde für Rhetorikseminare des DGB Bildungswerk dort ein Cache konzipiert, in dem die Teilnehmenden unterschiedliche Gesprächkulturen kennenlernen. Sie probieren sie in der Gruppe selbst aus oder müssen sich mit Audio-Beispielen auseinandersetzen. Dieser Cache ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Educache nicht zwangsläufig den Ort und das historische Geschehen aufeinander vereinen muss. Der Ort und die Aufgabe des Educaches stehen hier in keinem Zusammenhang, dadurch läßt sich der Cache auch problemlos auf einen anderen Ort übertragen.

4. Stärken und Grenzen der Methode

Educaching ermöglicht die alltäglichen Beobachtungen mit der praktischen Nutzung der digitalen Medien zu verbinden. Der Lernende wird auf diese Art mit den Rohdaten des Lerngegenstandes konfrontiert. Der Erstkontakt mit der Information liegt uninterpretiert vor. Entscheidend ist, den Prozess der Exkursion nicht zu stark zu didaktisieren, damit die Teilnehmenden von der Offenheit in der der Lerngegenstand dargeboten wird, profitieren können. Die Einbettung des Lerngegenstandes in den Alltag machen die Relevanz für den Lernenden deutlich und motivieren ihn deutlich stärker als eine Abbildung in einem Lehrbuch oder ein Vortrag des Referenten, weil der Lernende Teil des Lernszenarios wird und einen Sachverhalt nicht nur von aussen analysiert.

Der Educachende ist weniger ein Lernender, als vielmehr ein Suchender. Diese Tätigkeit beschreibt das Lernen viel treffender, weil sie vom Individuum geleitet und damit konstruktivistisch ist. Das Ziel des Suchens ist das Finden und das Verstehen. Sicherlich nicht im Sinne einer Lernzielverarbeitung, sondern viel mehr im Sinne einer Einpassung in die vorhandenen Konstrukte.

Darüber hinaus ist Educaching ganzheitlich zu verstehen. Ein Educache muss deshalb aus mehr als nur einem Ort bestehen. Soll er sich in den Lernprozess integrieren, muss der Ort Fragen aufwerfen und seine Geschichte zum Nachdenken anregen. Lern- oder Bildungsprozesse stellen sich dabei nicht mehr als eine isolierte Handlung dar, sondern passieren unweigerlich immer. Lernen meint dabei nicht nur die Akkumulation von Wissen, sondern die Einbettung von Informationen in einen Kontext (Assimilation). Educaching lässt sich aber nicht nur zur Rekonstruktion historischer Ereignisse einsetzen, sondern auch dazu, viele andere Lerngegenstände mit Alltagsbeobachtungen zu verknüpfen. So gibt es auch interessante Caches für den Bereich Mathematik, Naturwissenschaften, Soziologie, Religion, Politik, etc.

Die Praxis hat aber auch gezeigt, dass häufig nicht die Geschichte, die der Educache erzählen will, sondern die nächsten Koordinaten im Fokus der Teilnehmenden steht. Um die inhaltliche Auseinandersetzung in den Vordergrund zu stellen, muss den einzelnen Kleingruppen während der Exkursionsphase viel Zeit gegeben werden

5. Literatur und andere nützliche Hinweise

  1. Dokumentation des Educaches auf den Spuren von Martin Luther King
  2. Anleitung zum Erstellen eines Educaches
  3. Vom Geo- zum Educaching, erschienen in Praxis politische Bildung, Heft 2/2010. Wochenschau Verlag.