Das Digitale ist nur historisch aus dem Analogen hervorgegangen. Lange Zeit half die analoge Stofflichkeit, das Digitale zu verstehen, auch wenn alle gewählten Metaphern an der ein oder anderen Stelle wackelten. Ein Papierkorb war nie wirklich ein Papierkorb, sondern nur ein Ort, an dem Informationen verschwanden. Die Wiederherstellung also der konstruktive Akt hatte nicht viel mit dem Papierkorb zu tun. Ähnlich ging es uns mit der Datenautobahn. Am Ende hat sie uns wohl mehr Ärger als Nutzen eingebracht. Der Datenautobahn haben wir wahrscheinlich auch den Computer- und später dann den Internetführerscheinzu verdanken. Die Metapher hatte und hat Bestand bei dem Verstehen des Digitalen. Allerdings lassen sich Regeln aus stofflichen Systemen nicht auf virtuelle Systeme übertragen. Selbst die Metapher des Raumes birgt so seine Schattenseiten. Ein Raum aus Atomen hat maximal 4 Dimensionen, das kann man von virtuellen Räumen wirklich nicht behaupten.
Was aber, wenn alle Metaphern so ihre eigenen Macken haben, wie sollen wir dann das Wesen des Digitalen beschreiben? Uns fehlen die Vokabeln und wir fallen gerne und schnell in das „xy ist wie“ zurück, weil wir über den Aggregatzustand Digital zu wenig wissen. Wir wissen nur, dass er wenig mit fest, flüssig und gasförmig gemeinsam hat. Und die damit verbundenen Naturgesetze funktionieren zu einem Teil deshalb auch nicht mehr. Zum Beispiel vermehren sich Informationen beim Verbrauch. Uns geläufige Umgebungsvariablen wie zum Beispiel Temperatur, Dichte, Zeit und Energie spielen so gut wie keine Rolle und dennoch ist es ein System mit eigenen Regeln. So strebt es zum Beispiel immer einen Zustand maximaler Entropie an. Je mehr Menschen an einem Projekt beteiligt sind umso schneller ist die gleichmäßige eher chaotische Verteilung von Bits hergestellt. Je mehr ein System nach Kanalisierung strebt umso schneller wird es chaotische Strukturen hervorbringen.
Das Digitale hatte schon immer eine eigene Kultur mit eigenen sozialen Regeln und Begegnungsweisen. Die digitale Kultur hat sich dabei von der stofflichen Welt vollkommen abgekoppelt, dank fehlender Metaphern. Die sogenannte Remix-Kultur ist nur eine von vielen Praktiken, die stupides Copy und Paste der stofflichen Welt zu neuen Ehren verholfen hat.
Dennoch ist unser Leben nicht ein Digitales und ein Analoges, sondern die Digitalisierung des Analogen und die Analogisierung des Digitalen. Wer da mit wem verschmilzt ist schwer zu sagen und bei Verschmelzungsprozessen auch nicht so wichtig. Viel entscheidender ist, und jetzt nutze ich selbst eine der unsäglichen Metaphern, die nur hinken können, weil wir für das Alles keine Worte haben: Aus der Chemie kennen wir sogenannte Reaktionsmechanismen, mit ihnen erklären wir den Ablauf der „Verschmelzung“ von 2 oder mehr Reaktanten zu etwas neuem. Wenn man Alkohol und Säure miteinander reagieren lässt, es also zusammenkippt, entsteht ein Ester. Also eine Substanz mit vollkommen neuen Eigenschaften, nicht zu vergleichen mit denen der Ursprungsstoffe Alkohol oder Säure. So beobachte ich es auch bei dem gerade ablaufenden Prozess der Verschmelzung des Analogen und des Digitalen. Es entsteht etwas vollkommen Neues mit ganz eigenen physikalischen Eigenschaften. Interessant bei dieser Reaktion wie auch bei der Veresterung ist, dass sie in beiden Richtungen funktioniert. Es stellt sich also ein Gleichgewicht ein und selbst hier kann man die Metapher noch belasten weil auch die Verschmelzung reversibel ist. Das heißt im Gleichgewicht reagieren die beiden Stoffe nach wie vor miteinander, allerdings bleiben die Mengenverhältnisse erhalten.
Dazu ein Beispiel: Wenn das Buch mit dem Computer verschmilzt, wird daraus kein E-Book, jedenfalls nicht am Reaktionsende, sondern etwas, was mit einem Buch, wie wir es kennen nicht mehr viel gemein hat. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das dann noch Buch nennen werden. Es wird mit Sicherheit keine Seiten haben, es wird bei jedem anders aussehen, es wird durchsuchbar sein und dennoch werden wir es anfassen können. Das Problem ist, dass wir die Verschmelzung bisher so nicht begreifen, sondern als ein Kompromiss aus beiden Welten, mit der Illusion, das Beste aus beiden Welten miteinander zu vereinen. Aber wir werden damit leben müssen, dass in Anatalien die Dinge anders sein werden, als wir sie bisher kennen. Manche mögen sagen schlechter.
Hallo @gibro
ich finde ja nicht nur, dass der Vergleich mit dem Ester hinkt, sondern ich finde grundsätzlich die Haltung problematisch, das heute offensichtlich mehr auf den »Wetterbericht« wertgelegt wird als auf das »Wetter«, um mal ein anderes Gleichnis zu wagen. Mit dem Wetterbericht meine ich die Analysen, Theorien und darauf basierende Vorhersagen, mit denen wir das Bild unserer Zukunft zeichnen. Mit »Wetter« meine ich unsere Zukunft, die durch unser Handeln entsteht. Für mich sind diese heute weit verbreiteten »Wettervorhersagen« unserer Zukunft ein Phänomen, das dazu führt, dass wir uns im Prinzip in diskursiven Endlosschleifen gefangen halten, statt die Zukunft aktiv zu gestalten. Und dabei ist es natürlich richtig und gut, den Eigenheiten der medialen Artefakte nachzuspüren und sich nutzbar zu machen, aber trotzdem bleibt die entscheidende Frage: „Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten ?“ und nicht „wie wird unsere Zukunft werden ?“. Bruno Latour hat in seinem Buch »Wir sind nie modern gewesen« diesen postmodernen Gestus ziemlich überzeugend zerlegt und mit der Akteur-Netzwerk-Theorie auch einen Weg gezeichnet, wie wir uns aus den Fallen der Postmoderne befreien können. Ich gebe zu, Latour ist nicht leicht zu lesen und ich bin keinesfalls sicher, ob ich ihn in allen Einzelheiten verstanden habe. Aber ich bin davon überzeugt, dass es dringender den je ist, sich diesem grundsätzlichen Diskurs zu stellen. Die Postmoderne hat nach Latour all die Beschränkungen »Utopias« (einem Begriff der Moderne). „Sie verlässt sich auf die Gewissheit der Welt jenseits der Welt“ schreibt Latour in seinem »kompositionistischen Manifest«, das ich hier versucht habe zu erläutern: http://www.mediendidaktik.org/2012/02/21/bruno-latour-befreiung-aus-den-endlosschleifen-der-postmoderne/ . Vielleicht könnte das ja ein Einstieg in diesen Diskurs sein?
Schöne Grüße
Wolfgang
Lieber Wolfgang,
auch wenn es sich nach einem Blick in die Zukunft anhört, ist es doch aus einer Bewertung und einem Blick in die Vergangenheit entstanden. Zur Vorgeschichte: Ich hatte vor einigen Monaten schon mal ein Beitrag zu Anatalien geschrieben: http://www.dotcomblog.de/?p=2889. Das alles führte zu der Gestaltung eines Seminarraums, also so richtig praktisch: http://www.dotcomblog.de/?p=2900
Deshalb ist die entscheidende Frage für mich genau die: „Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten?“. Der Artikel soll dabei kein Blick in die Glaskugel sein, sondern Gestaltung von bildung der Zukunft. Ich sehe mich keinesfalls in einer Vorhersage gefangen. Das hier beschriebene sind eher weitergehende Beschreibungen des Lernariums, so nenne ich den Seminarraum, den wir in Hattingen, in dem Tagungszentrum, in dem ich arbeite gestalten. Das Lernarium wiederum ist eine Art Anatalien für die Bildung.
ah, diesen Kontext kannte ich nicht. Hört sich super an ! Ich glaube das ist der richtige Weg! Zukunft aktiv gestalten statt nur als Prophet durch die Gegend zu twittern.
Grüße
Wolfgang
[…] weil wir es nicht mit einer digitalen und einer analogen Welt zu tun haben, sondern mit Anatalien, also einer Verschmelzung der beiden Welten. Die daraus resultierenden Dynamiken sind uns […]
[…] auf jeden Besucher. Damit ist die Konferenz ein spannendes Labor für unser Zusammenleben in Anatalien. Tatsächlich gab es bisher keine Konferenz auf der ein stabiler Zugang zum Internet bereit […]